Gentrification!

Gentrification!

Istanbul. Ein Streifzug durch die Viertel Balat und Fener.
Zauberer, Mystiker und engagierte Projekte.

„Gentrification!“ sagt die Anthropologin, in ihrem ungewöhnlich gutem Englisch, als wir die ‘Grenze’ nach Fener übertreten. Ich habe sie gerade erst vor ein paar Stunden getroffen, und fast genauso lange sind wir schon unterwegs, in den Gegenden von Istanbul, wo sich selten ein Tourist hin verirrt. Ihre unwahrscheinliche Begeisterung hat mich fasziniert. Sie meint, eines Tages möchte sie eine andere Art der Anthropologie lehren, nicht nur wissenschaftlich, sondern näher am Menschen, das Humane als Variable miteinbeziehend. Sie findet in jedem kleinen Detail einen Ansatz, jeder Farbanstrich, jede Fenstereinfassung, alles steht zur Debatte. Sie hat viele Antworten, ich viele Fragen. Das Große ist nur ein Ergebnis vieler kleiner Dinge, die alle das lokale Mikroklima in der Nachbarschaft beeinflussen. Sei es nur die Art wie sie die Wäsche aufhängen, meint sie.

Hängt die Wäsche über die Straße, führt die zu nachbarschaftlichem Austausch.
Nicht so ein Viertel weiter. Hier bleibt man lieber unter sich.

Aufgewachsen bei wohlhabenden Eltern auf der asiatischen Platte,  lebt sie heute hier in Fener, Tür an Tür mit Roma’s und syrischen Flüchtlingsfamilien – um sie zu studieren. Die meiste Zeit zumindest. Manchmal muss sie zurück, in die Parallelgesellschaft, mit ihren Annehmlichkeiten und Regeln. Doch merkt man, ist sie hier schon mehr zuhause als anderswo. Sie trägt die Kleidung secondhand, abgelaufene Schuhe, und schert sich nicht großartig um die Meinung anderer. Nur begeistern, dass kann sie sich schnell, für alles Mögliche: ihr Viertel, das reiche Leben auf den Gassen, das Verhalten der Leute, alles das überlegt und beobachtet sie, während wir durch die Strassen spazieren.

Und sie bringt gerne Leute mit in diese Gegend. Nicht nur um ihre eigenen Theorien zu prüfen, sondern auch um frische Ansichten und neue Perspektiven zu bekommen.

Die Anthropologie und Gaye, die beiden haben sich gefunden. Ihre Abschlussarbeit, über die Gentrifizierung in Istanbul sprenge bereits jetzt sämtliche Rahmen, doch ist sie noch lange nicht bedacht sich mit den Recherchergebnissen zufrieden zu geben.

„Gentrification“, erklärt sie, ist die schleichende Integration reicher Leute in die Gebiete der Armen.

Die ersten die sich in diese schmucklosen Viertel trauen sind für gewöhnlich die Künstler, angelockt durch das beinahe anarchistische Leben, und die günstigen Preise. Danach folgen die „Weirdo’s“, und Individualisten. Und drittens und letztens, wenn am Ende die hippen Cafe’s auftauchen, werden dann die besten Lagen von reichen Investoren gekauft, und schön langsam folgen auch etwas besser gestellte Leute.

Wir gehen tiefer in den Bezirk, denn hier sieht man die Unterschiede noch deutlicher. Hinter der verrosteten Eisentür leben syrischen Flüchtlinge, gleich nebenan eine türkische Familie, hinter alarmgesicherten Türen und vergitterten Fenstern. Der Kontrast ist umso größer, da die Syrier die in diesen Häusern wohnen, oft schon in Ihrer Heimat zu dem Ärmeren gehört haben.

Als dritte Gruppe, gibt es noch die Roma, die einen Großteil der Einwohner hier ausmachen. Sie sind schon länger hier als die Syrier, und dadurch auch sozial über ihnen. Auch weil sie hier schon ihre Strukturen aufgebaut haben.

Ein großer Teil des Lebens spielt sich hier auf der Straße ab.
Wer ein Geschäft eröffnet ist gut beraten sich in die Nachbarschaft sozial zu integrieren.

Diese ungeschriebenen Regeln, werden von der Nachbarschaft gemacht, und wer sich nicht daran hält, darf sich nicht wundern wenn er eines Tages wieder zurück im Flüchtlingslager ist, oder sein Geschäft plötzlich geschlossen wird. Sie gelten bis auf die unterste Ebene der Straße, wo die Kinder aller Schichten miteinander spielen. Wenn es Probleme gibt, sind die Schuldigen oft die, die es schon von Anfang an waren – die syrischen Familien, die sich in ihrer „Andersartigkeit“ hier einnisten.

Die beiden syrischen Zwillinge lernen einzustecken. Selbst als sie von den Jungs provoziert, und bespuckt werden, ist es deren Mutter die zur Verantwortung gezogen wird.

Die Kinder sind die grossen Verlierer, denn sie haben keine Lobby hier, und oft keine ID Card, damit kein Recht auf eine Schulbildung. Diese Karte wäre für die Familien, eigentlich einfach zu besorgen, meistens Behördenhürden, fehlendes Wissen oder Bewusstsein, dass Kinder davon abhält eine Schulbildung zu bekommen.

Es bleibt dann oft auf der Straße. Viele hier sniffen Klebstoff in den angrenzenden Höhlen der ehemaligen Stadtmauer. Andere Drogen bleiben ihnen nur deshalb verwehrt, weil sie nicht das nötige Geld haben. Es ist schwierig, nicht auf irgendeine dunkle Seite abzurutschen. Meist jedoch, bleibt man zumindest arm. Manche versuchen sich auf der Strasse, und werden dann von der Bettelmafia in Abhängigkeit gehalten. Oft schon von Klein auf. Und steigen dann langsam auf.

Die obersten Herren dieser Strukturen, sind alles andere als finanzschwach, es sind die eigentlichen Gewinner der Abhängigkeitspyramide.

Mit jedem Kind das auf der Straße Geld verdient, werden diese Strukturen mehr und mehr genährt. Manche meinen es ist besser den Kids kein Bares zu geben.

Sollte sich eines Tages herausstellen, das das Geschäft für die reichen Hintermänner doch nicht so produktiv ist, können vielleicht manche der Kids mal vom Staat adoptiert werden, wie es schon in manchen Fällen passiert ist. (wenn auch noch nicht in der Türkei)

Der Clown – Kevin Payaso

Ich treffe ihn eines Abends im Chillout Cengo im Distrikt Beyoglu. Er strahlt die Energie eines Lebenskünstlers aus, einer der schon viel erlebt hat. Gutes wie Schlechtes. Sein Erzählungen fesseln alle, er hat die Aura eines Performers.

Was auch nicht verwunderlich ist. Inzwischen sind es 35 Jahre, dass er sein Zuhause in San Francisco verlassen hat.  Seit dem ist er auf Tournee in seiner Heimat, der Welt.

In 55 verschiedenen Ländern ist er schon aufgetreten, die Türkei ist sein 56.

Seine Motivation sind die Kinder. Dafür steht er jeden Tag auf, kauft anstatt der billigen Ballons die Teuren,  (über)lebt Tag für Tag, Von Show zu Show.  Einmal geht es gut, des anderem Male nicht so.  Doch der eigentliche Gewinn bleibt der gleiche, das verwunderte Lächeln derjenigen, die sich im Zauberland wähnen. Die, wie er sagt noch nicht so ernst und (be)wertend sind wie ihre erwachsenen Vorbilder.

Ein Videoportrait

Diese Türkischen Mädels kommen gerade von der Schule. Flüchtlings, und Roma Kinder fehlt oft der Zugang, meist aus banalen Gründen, wie fehlendem Bewusstsein

Eine andere spannenden Istanbuler Straßengeschichte ist die vom Architekten und dem Aussenseiter, die irgendwann beschlossen einen Ort für die  Leute zu machen, die sonst keine Lobby haben.

Das Dervis Baba, Cafe der Sufis

Es klingt fast wie eines dieser orientalischen Märchen, über die man gerade in dieser Ecke der Welt immer wieder mal stolpert:

Der Architekt, einst ein gutverdienender erfolgreicher Mann, kann mit bestimmten Gesellschaftlichen Konstanten nicht umgehen, vor allem will er aber seine Ideale nicht über Bord werfen, und landet so langsam auf der Straße. Er wird die kommenden drei einhalb Jahre zum Alkoholabhängigen, sinkt tiefer und tiefer, und erreicht den Punkt, wo alles egal ist. Tiefer kann er nicht sinken, das Leben hat seinen Wert verloren.

Doch dann ändert sich plötzlich alles. Wie ein Phönix aus der Asche, kommt er eines Tages zurück. Er hat einen Auftrag.

Er errichtet er das erste Dervis Baba, in Balat. Übersetzt: Cafe für Obdachlose, Liebende und Verrückte. Das war 2011.

Balat Streetlife

Zuerst nur ein kleines Lokal, versuchen sie mit dem erwirtschafteten Geld, sowie mit Spenden und ihren eigenen Mitteln den Bedürftigen im Viertel zu helfen. Sei es durch Essen, Kleidung, oder dem Schlichten von Problemen. Gleichzeitig wird auch versucht Bewusstsein zu schaffen, für die Nachbarschaft, oder für die Schulbildung der Kleinen.

Diese Aktionen begeistern andere, mehr und mehr streuen sich die Gerüchte, von diesem Mann mit seinem Cafe, und mehr und mehr Leute kommen, Helfer wie Hilfsbedürftige.

Ali Denizci: „Wenn ich es sehe, wenn ich es höre, bin ich verantwortlich.“

Religion, egal. Alle finden hier zusammen, in einem Viertel, das in seinen Grundfesten Multikulturell geprägt ist. Hier gibt es alle, Ungläubige, konservative Muslime, Christen, ja sogar einen Sufi Orden!

Dieser war es auch, der seit der Grundsteinlegung das Cafe zu einem großen Teil mitgetragen hat.

Ali Denizci ist ihnen nach seiner ‚Auferstehung‘ beigetreten, sie alle haben das gleiche Ziel. Die Liebe zu Gott, und somit zu allen Menschen zu stärken, quasi das Ego zum ‚Verschwinden‘ zu bringen. Dazu gibt es körperliche wie geistige Übungen, meist in Begleitung hypnotischer Musik, es wird getanzt, oder rhythmisch gesungen und geatmet.

Es sind Mystiker, oft bekannt für ihre Intuition, die unkonventionelle Art, und ihre oft sprühenden Augen. Regeln im Sinne einer Religion gibt es nicht, alles ist möglich. Jeder muss seinen Weg selbst finden.

Das trifft oft auf Widerspruch in der konservativ-islamischen Fraktion, deshalb hält sich diese Gruppe, wenn gleich sie auch seit Anbeginn des Islams als Nebenstrom existiert, meist im Verborgenen.

Ich versuchte, ihn zu finden am Kreuz der Christen, aber er war nicht dort. Ich ging zu den Tempeln der Hindus und zu den alten Pagoden, aber ich konnte nirgendwo eine Spur von ihm finden. Ich suchte ihn in den Bergen und Tälern, aber weder in der Höhe noch in der Tiefe sah ich mich imstande, ihn zu finden. Ich ging zur Kaaba in Mekka, aber dort war er auch nicht. Ich befragte die Gelehrten und Philosophen, aber er war jenseits ihres Verstehens. Ich prüfte mein Herz, und dort verweilte er, als ich ihn sah. Er ist nirgends sonst zu finden.

Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207 – 1273)

Die Treffen finden in einer ‚Dergah‘ statt, so heißt die Versammlungsstätte. Hier ein unscheinbares Holzhaus, unweit von Cafe.

Neue Leute werde nur selten in die Runde gespült. Nicht einmal die Nachbarschaft weiß was hier wöchentlich passiert. Werbung wird keine gemacht, wer hier her kommen soll, den wird Gott auch herführen. In der Welt der Sufis gibt es keine Zufälle.

Inzwischen sind viele kleine Projekte in der Nachbarschaft unter der Obhut des Dervis Baba entstehen. Man bekommt Spenden, Kleidung, Essen, und gibt diese an die Flüchtlingsfamilien oder andere Bedürftige im Viertel weiter. Bei den Besuchen wird dann auch gleich für die eben gegründete Abendschule im Cafe geworben. Mathe, Türkisch, Malerei, kann keinem Kind schaden. Genau sowenig, der Austausch mit anderen Kids, aus der Nachbarschaft, gerade wenn diese aus anderen Kulturen kommen. So lernt man gleich von klein auf, Menschen als Gleiche zu sehen.

Manchmal braucht es einige Überzeugungsarbeit, um den Kleinen den Gang zur Bildung zu ebnen,  und gerade dann sind die Hilfsmittel vom Cafe eine gute Brücke.

Die Schule ist gratis, und ohne verpflichtenden Stundenplan! Deswegen auch nicht verwunderlich, dass trotz freiwilliger Teilnahme die Klassen voll sind.

Die Schule ist direkt im Dachgeschoß des Devis Baba untergebracht. Der Unterricht startet Wochentags um Fünf, weil die Lehrer das neben ihrem Tagesjob machen. Ausserdem helfen noch junge Freiwillige um das Chaos etwas unter Kontrolle zu halten. Patience is a asset.
Wird das im Unterricht erzählte doch neugierig aufgesogen, kann man sicher nicht von westlicher Diziplin sprechen (Was auch gut ist). Es geht ja nicht um Effizienz, sondern um das Zusammenleben, in einem Viertel das bunter fast nicht sein könnte. Ein Vorzeigebeispiel für andere (reiche) Länder die wegen ein paar Prozent Flüchtlingsanteil jammern.

Die Malklasse (Slideshow)

Im Dervis Baba ist es den Leuten wirklich wichtig, ihren Teil zu leisten. Auch wenn er klein, und im Großen gar nicht sichtbar ist. Man wird die Flüchtlingskrise, die Migration nicht verändern können, aber um sich herum sieht jeder, unmittelbar, was er geleistet hat, und dort ist es wo Veränderung beginnt.
Wer weiß schon wo es hinführt, schlussendlich ist all das nur aus dem kleinen Cafe von Ali entstanden.

Schreibe einen Kommentar